Interview mit Kurt Liedwart
Seit vier Jahren betreibt Kurt Liedwart im fernen Moskau die Mikroton Recordings. Im freiStil-Gespräch erzählt er von den Anfängen, den Absichten und den Perspektiven seiner Arbeit, sowie von den Netzwerken in Wien und Berlin und den ökonomischen Bedingungen eines im wahrsten Sinn Independent-Labels.
freiStil: Kurt, wann hast du dein Label gegründet? Was gab den Impuls für die Gründung, und von welchen Leuten warst du dabei umgeben? Anders gesagt: Bist du Teil eines bestimmten sozialen Netzwerks?
Kurt Liedwart: Ich Startete Mikroton 2008, nachdem ich lange Jahre darüber nachgedacht hatte, auf welche Musik oder welche Annäherungen zu ihr ich mich eigentlich fokussieren will. Am Anfang war das Internet-Label „Mikroton Digital", und die erste Release „Sound Canvas 1. Compilation of sound art, minimal and improvised music“ mit Beteiligung von Knut Auferman, Alva Noto, Frank Bretschneider, Lawrence English, Sawako, Kenneth Kirschner und anderen war die Grundlage dafür, worauf ich später näher eingehen wollte. Die Idee eines freien Netlabels befriedigte mich aber von Beginn an nicht, weil ich davon überzeugt war, dass gute Musik viel Aufwand erfordert und dass dieser Aufwand auf die eine oder andere Weise bezahlt werden muss, damit Musiker neue Musik herstellen können, die denselben Aufwand erfordert. Die Folge waren eben Mikroton Recordings mit reellen Releases, und zwar in fast absolutem Vakuum im Sinn von Musik, die ich höre und mag, die aber in hier in Russland nicht sehr bekannt ist. So Bereiche wie elektroakustische Improvisation, Reduktionismus oder Post-Reduktionismus klingen für russische Hörer und Musiker absolut exotisch. In der Rezeption in Russland fühlen sich Leute von Musik irritiert, die sich in verschwommenen Grenzen zwischen den Bereichen bewegt, wie etwa jene von Christof Kurzmann, so als würden sie die dahinterstehende Gegenbewegung nicht mitkriegen. Davon abgesehen ist es unmöglich, das Violet Quartet, El Infierno Musical oder Hammeriver in eine Schublade zu stecken. Auf der einen Seite scheint die Musik dieser Gruppen multistilistisch oder eklek- tizistisch zu sein, auf der anderen funktioniert sie als Ganzes, sodass wir von einem neuen Sound oder einem neuen Genre sprechen können, also von alternativen Bewegungen innerhalb dieser Art von Musik; darüberhi- naus klebe ich nicht an Begriffen von improvisierter oder komponierter Musik. Der Impuls war ein grundsätzlicher: Arbeiten von Musikern zu veröffentlichen, die ich mag und die ich über einen längeren Zeitraum verfolge, um ihre Projekte zu dokumentieren. Ich sehe meine Rolle als Zurückhaltender und Unsichtbarer. In gewissem Sinn arbeite ich als Old-school-Produzent, der Musikern neue Projekte vorschlägt.
Was ist deiner persönlicher Background als Labelchef, der viel, wenn auch nicht nur elektronische Musik publiziert? Bist du selber Musiker?
Ja, ich bin Musiker, und zwar ein sehr langsam arbeitender Musiker. Ich habe bislang nichts veröffentlicht, bis auf einen Track für die oben genannte „Sound Canvas"-Compilation. Ich arbeite in verschiedenen Bereichen solo und in Kollaborationen. Zum Beispiel spielte ich im Vorjahr in Teni Zvuka beim „Shadows of Sound"-Festival im Trio mit llia Belorukow und Radu Malfatti, um dessen „Nariyamu" aufzuführen. Ich sehe die Musik auf Mikroton Recordings nicht als elektronische, obwohl manche Elektronik-Tracks auf Compilations vertreten sind. Ich sehe die Musik, die ich herausbringe, im elektroakustischen Feld mit anderen Elementen anderer Musiken drin. Ich bin auf der Suche nach merkwürdigen Verschmelzungen von Formen, Strukturen und Materialien - und nicht nach Stilen oder Genres, da mir diese Etikettierungen herzlich egal sind.
Unter welchen Aspekten wählst du die Musikerinnen aus? Gibt es so etwas wie einen roten Faden, der sich durch die Mikroton Recordings zieht? Oder handelt es sich um eine ganz heterogene Angelegenheit?
Ich suche mir Künstlerinnen aus, deren Musik ich mag. Ich will nicht Zeit, Energie, Geld und das Leben mit der Veröffentlichung von Musik verschwenden, die ich nicht mag. Ich will nicht, dass Mikroton ein programmatisches Label wird, ich will nur Musik herausbringen, die den Musikerinnen, mir und den Hörerinnen Spaß macht. Gleichzeitig kann ich Musik anbieten, die nicht leicht verdaulich ist, die Gedanken provoziert und innovativ klingt. Insgesamt hat das Meiste mit elektroakustischer Improvisation zu tun. Jedenfalls suche ich Musik mit originellen, seltsamen und bizarren Herangehensweisen. Meine Releases sind in der Umgebung bestimmter Musiker organisiert: Günter Müller, Jason Kahn, Christof Kurzmann, Werner Dafeldecker, eRikm, Chris Abrahams - und um bestimmte Gruppierungen herum, zum Beispiel „klingt.org" oder „echtzeitmusik". Die beiden letzteren wimmeln vor heterogenen Musikern mit heterogenen Methoden. So gesehen, ja, in gewissem Sinn können Mikroton-Releases als heterogen betrachtet werden.
Deine ersten Editionen versammeln eine Menge österreichischer Musiker, wie etwa Christof Kurzmann, Werner Dafeldecker und infolgedessen die ganze Community aus dem klingt.org-Universum von Dieter Kovacic aka dieb13. Gibt es einen speziellen Grund dafür?
Wenn man ein Label betreibt, findet man sich früher oder später automatisch in einem Netzwerk von Musikern, die dich empfehlen und mit Demos beschicken. Nach „Palmar Zähler" mit Christof Kurzmann, Alan Courtis, Jaime Genovart und Pablo Reche schlug Christof The Violet Quartet vor und danach Hammeriver. Eine Kettenreaktion. Als ich 2008 das Label gründete, hatte ich eine vage Idee, eine klingt.org-Compilation zu machen, quasi als Dokumentation der Aktivitäten, die ein Bewusstsein davon transportieren, worum es bei klingt.org geht. Als Klaus Filip 2009 In Moskau spielte, erzählte er mir, dass klingt.org im Jahr 2010 zehn Jahr alt werde. Das erschien mir der perfekte Zeitpunkt für die geplante Compilation. So wurde der Stein ins Rollen gebracht. Der Grund dafür war ein fundamentaler: Diese österreichischen Musiker machen Musik, die mich interessiert und stimuliert.
Aktuelle Mikroton-Releases, die für mich interessant klingen, sind die Duos Chris Abrahams/Lucio Capece und Christine Jauniaux/eRikm. Darüberhinaus planst du eine 3-CD-Box mit „echtzeitmusik berlin", worüber wir übrigens eine umfassende Buchrezension publizierten. Warum, denkst du, haben die sich Mikroton ausgesucht?
Sie haben alle unterschiedliche Vorgeschichten, bevor sie von Mikroton veröffentlicht werden wollen. Die Idee, eine „echtzeitmusik berlin"-Compilation zu machen, war die gleiche wie bei „klingt.org: 10 Jahre Bessere FarbenIch wusste, dass das Buch erscheint und hatte wieder vage Ideen, wie ich die Begleitmusik davon machen könnte. Nicht viele Bücher über zeitgenössische Musik kommen mit CDs heraus: ich dachte, ich könnte diese Regel brechen und dem Buch etwas Musik beilegen. Wie auch immer, ich denke, dass drei CDs für so eine riesige und heterogene Szene nicht ausreichen. Ich machte Burkhard Beins den Vorschlag, und er war begeistert davon und versprach mir, bei der Verwirklichung zu helfen. Tatsächlich arbeitete er hart als Zusammensteller der CD-Box, was für ihn dennoch viel einfacher war als etwa für mich, da er eine prominente Figur innerhalb der Szene ist, Herausgeber des Buchs ist und nicht zuletzt in Berlin lebt. Catherine Jauniaux/eRikm setzt eine eRikm Subserie fort, die mit „Stodgy" (eRikm/Norbert Möslang) startete. Sie dokumentiert eRikm's Arbeit mit Vokalistinnen, in diesem Fall mit Catherine Jauniaux. Und wieder ging es um dieses Netzwerk- und Zufalls-Ding: Er schickte mir die Aufnahmen am Tag, als Tim Hodgkinson und Ken Hyder in Moskau spielten. Und zwischen Cartouche, seiner Aufnahme mit Natasha Muslera, einer anderen Sängerin, übrigens russischer Herkunft, und dem Duo mit Catherine Jauniaux wählte ich letzteres. „None Of Them Would Remember It That Way" wurde von Lucio vorgeschlagen, soweit ich mich erinnere, empfahlen Chris oder Werner oder Christof oder alle drei, mir die Aufnahme zu schicken.
Wie steht es um die wirtschaftliche Situation, wenn man in Russland, speziell in Moskau, ein Label für experimentelle Musik betreibt? Anders gesagt, gab es zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche gesellschaftliche Bedingungen? Oder bist du ein Millionär, und nichts kann dir etwas anhaben?
Nein, ich bin kein Millionär. Leider. Ich denke, dass jede innovative Musik weltweit unter furchtbaren ökonomischen Zuständen entsteht. Keine Zuschüsse, keine Subventionen, nur die Einnahmen aus Verkäufen von CDs, LPs, Tickets, was auch immer. Ich bin mir nicht sicher, wie lange das von mir geschätzte europäische Kunstsubventionssystem noch existieren wird, wenn ich sogar aus EU-Apologeten-Kreisen immer öfter Kritik an diesem System vernehme. Und ich lebe in einem Land, wo es so ein System überhaupt nicht gibt. Es hilft mehr oder weniger jungen (bis 35) visuellen und Medienkünstlern, aber die verhalten sich gegenüber neuer experimenteller Musik und Klangkunst - ein Begriff, mit dem ich mich nicht wohlfühle und auf den ich zunehmend allergisch reagiere - komplett ignorant. Also kann ich mit Stolz (aber warum sollte ich stolz darauf sein?) Mikroton ein nichtfinanziertes, echtes Independent-Label nennen. Nur: unabhängig wovon? Von Staat, Oligarchie, Kapitalismus, Sozialismus - von alledem, denke ich.